Marie Luise Kaschnitz 
(*31. Januar 1901 Karlsruhe - † 10. Oktober 1974 Rom)
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"Frieden, Bewahrung des Glücks – es war, als ob eine mächtige Stimme in Elissa dies und immer wieder dies verlange, eine Stimme, die nicht ihr allein gehörte, sondern allen Frauen der Welt." 

Quelle: Elissa. Roman, Frankfurt am Main: Insel [1937] 1981, S. 171.

Auferstehung

Manchmal stehen wir auf
Stehen wir zur Auferstehung auf
Mitten am Tage
Mit unserem lebendigen Haar
Mit unserer atmenden Haut.

Nur das Gewohnte ist um uns.
Keine Fata Morgana von Palmen
Mit weidenden Löwen
Und sanften Wölfen.
Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken
Ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus.
Und dennoch leicht
Und dennoch unverwundbar
Geordnet in geheimnisvolle Ordnung
Vorweggenommen in ein Haus aus Licht.


Rezitation: Rosel Zech

Bilder: Collage aus Fotografien (Netz) und Bildern von Albin Egger-Lienz

Eines Tages

Es ist kein Garten so fernab gelegen ,
Daß nächtens nicht der wilde Schrei der Welt
Gleich einem wunderbaren Feuerregen
Vernichtend auch auf seine Saaten fällt.

Und keinem ist der Kreis so fest gezogen,
Daß eines Tages nicht ein wilder Geist
Ihm mit der Urgewalt der Meereswogen
Furcht und Erbarmen aus dem Herzen reißt.

Ein wölfisch Wesen springt aus Lammesmienen,
Und keiner lebt, der nicht in sich entdeckte
Ein fremdes ungeheures Element.

Und weil er lebt, muß er dem Chaos dienen
Und einem Neuen, das die Zeit erweckte,
Und dessen Sinn und Ende niemand kennt.

Rezitation: Fritz Stavenhagen

Anmerkung: Der Tag hat viele Minuten, keine der anderen gleich, abertausend Minuten, eine ist immer reich. (M.L.Kaschnitz)

Am Strande

Heute sah ich wieder dich am Strand
Schaum der Wellen dir zu Füßen trieb
Mit dem Finger grubst du in den Sand
Zeichen ein, von denen keines blieb.

Ganz versunken warst du in dein Spiel
Mit der ewigen Vergänglichkeit
Welle kam und Stern und Kreis zerfiel
Welle ging und du warst neu bereit.

Lachend hast du dich zu mir gewandt
Ahntest nicht den Schmerz, den ich erfuhr:
Denn die schönste Welle zog zum Strand
Und sie löschte deiner Füße Spur.


Glauben Sie fragte man mich
An ein Leben nach dem Tode
Und ich antwortete: ja
Aber dann wusste ich
Keine Antwort zu geben
Wie das aussehen sollte
Wie ich selber
Aussehen sollte
Dort

Ich wusste nur eines
Keine Hierarchie
Von Heiligen auf goldenen Stühlen
Sitzend
Kein Niedersturz
Verdammter Seelen
Nur

Nur Liebe frei gewordene
Niemals aufgezehrte
Mich überflutend

Kein Schutzmantel starr aus Gold
Mit Edelsteinen besetzt
Ein spinnwebenleichtes Gewand
Ein Hauch
Mir um die Schultern
Liebkosung schöne Bewegung
Wie einst von tyrrhenischen Wellen ...
Wortfetzen
Komm du komm

Schmerzweb mit Tränen besetzt
Berg- und Talfahrt
Und deine Hand
Wieder in meiner

So lagen wir lasest du vor
Schlief ich ein
Wachte auf
Schlief ein

Wache auf
Deine Stimme empfängt mich
Entlässt mich und immer
So fort

Mehr also, fragen die Frager
Erwarten Sie nicht nach dem Tode?
Und ich antwortete
Weniger nicht.

 lyrikline.org (Text und Audio; Porträtfoto und Kurzbiographie) - Marie Luise Kaschnitz liest eigene Gedichte 

Burkhard Reinartz:Mitten am Tage auferstehen: Die Dichterin Marie Luise Kaschnitz.
 (mp3-Audio, 18,2 MB, 19:53 Minuten) In:
Deutschlandfunk-Sendung „Aus Religion und Gesellschaft“.22. September 2022.

Geduld. Gelassenheit. O wem gelänge
Es still in sich in dieser Zeit zu ruhn,
Und wer vermöchte die Zusammenhänge
Mit allem Grauen von sich abzutun?

Zwar blüht das Land. Die reichen Zweige wehen,
Doch Blut und Tränen tränken rings die Erde
Und in der Tage stillem Kommen, Gehen
Verfällt das Herz der tiefsten Ungebärde.

Und ist des Leidens satt und will ein Ende
Und schreit für Tausende nach einer Frist,
Nach einem Zeichen, dass das Kreuz sich wende.

Und weiß doch nicht, mit welchem Maß der Bogen
Des Unheils über diese Welt gezogen
Und welches Schicksal ihm bereitet ist.

Dominique Engler