"Die menschliche Dummheit
ist international."
"Hégésippe Simon", in: "Die Weltbühne", 15. Dezember 1931, S. 895
Dein tiefstes Lebensgefühl –
wann hast du das gehabt?
Mit einem Freund?
Immer allein.
Einmal, als du an der Brüstung des Holzbalkons standest,
da lag das Schloß Gripsholm, weit und kupplig,
und da lag der See
und Schweden,
und die staubige Waldecke –
und auf der dunkelgrün etikettierten Platte sang ein Kerl im Cockney-Englisch: „What do you say …?“
und da fühltest du:
Ich bin.
So war dein Lebensgefühl.
Mit einer Frau?
Immer allein.
Einmal, als du nachts nach Hause gekommen bist
von einer vergeblichen Attacke
bei der großen Blonden,
elegant-blamiert, literarisch hinten runtergerutscht,
gelackt, abgewinkt: danke, danke!
da standest du vor deinem runden Nachttisch
und sahst in das rosa Licht der Lampe
und tatest dir leid, falsch leid, leid
und fühltest:
Ich bin.
So war dein Lebensgefühl …
In der Masse?
Immer allein.
Es ist so selten,
das Lebensgefühl.
Casanova hatte es einmal.
Vierter Band.
Er sieht bei seiner Geliebten Rosalinde
zwei Kinder, die er ihr vor Jahren gemacht hat,
schlafend, in einem Bett, Mädchen und Knabe.
Sie zeigt sie ihm,
hebt die Beckdecke hoch, die junge Sau,
die Mutter,
um ihn anzugeilen,
um ihm Freude zu machen,
was weiß ich.
Und er sieht:
wie der Knabe im Schlummer seine Hand auf den Bauch des Mädchens gelegt hat.
„Da empfand ich“,
schreibt Casanova,
„meine tiefste Natur“.
Das war sein Lebensgefühl.
Verschüttet ist es bei dir.
Du wolltest leben
und kamst nicht dazu.
Du willst leben
und vergißt es vor lauter Geschäftigkeit.
Du willst das spüren, was in dir ist,
und hast eifrig zu tun mit dem, was um dich ist –
Verschüttet ist dein Lebensgefühl.
Wenn du tot bist, wird es dir sehr leid tun.
Noch ist es Zeit –!
Weltbühne, 28. Oktober 1930
Es wird nach einem happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.
Man sieht bloß noch in ihre Lippen
den Helden seinen Schnurrbart stippen-
da hat sie nun den Schentelmen.
Na,und denn-?
Denn jehn die beeden brav ins Bett
Na ja…diß is ja auch janz nett.
A manchmal möchte man doch jern wissen:
Wat tun se, wenn se sich nich kissen?
Die könn ja doch nich immer penn…!
Na, und denn-?
Denn säuselt im Kamin der Wind.
Denn kricht det junge Paar ′ n Kind.
Denn kocht se Milch. Die Milch looft üba.
Denn macht er Krach. Denn weent sie drüba.
Denn wolln sich beede jänzlich trenn…..
Na, und denn-?
Denn is det Kind nich uffn Damm.
Denn bleihm die beeden doch zesamm.
Denn quäln se sich noch manche Jahre.
Er will noch wat mit blonde Haare:
vorn doof und hinten minorenn….
Na, und denn-?
Denn sind se alt.
Der Sohn haut ab.
Der Olle macht nu ooch bald schlapp.
Vajessen Kuß und Schnurrbartzeit-
Ach, Menschenskind, wie liecht det weit!
Wie der noch scharf uff Muttern war,
det is schon beinah nich mehr wahr!
Der olle Mann denkt so zurück:
wat hat er nu von seinen Jlück?
Die Ehe war zum jrößten Teile
vabrühte Milch und Langeweile.
Und darum wird beim happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.
O hochverehrtes Publikum,
sag mal: Bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen?
Jeder Direktor mit dickem Popo
spricht: "Das Publikum will es so!"
Jeder Filmfritze sagt: "Was soll ich machen?
Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!"
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
"Gute Bücher gehn eben nicht!"
Sag mal, verehrtes Publikum:
Bist du wirklich so dumm?
So dumm, daß in Zeitungen, früh und spät,
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbestellung drohn?
Aus Bangigkeit, es käme am Ende
einer der zahllosen Reichsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte...
Sag mal, verehrtes Publikum:
Bist du wirklich so dumm?
Ja dann...
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmässigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Griesbrei-Fresser-?
Ja, dann...
Ja, dann verdienst dus nicht besser
erschienen in „Die Weltbühne“ vom 07.07.1931 als Theobald Tiger
© by Gary O'Connell
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