Erich Kästner (Aufnahme Grete Kolliner, um1930)

Erich Kästner
(* 23. Februar 1899 Dresden - † 29. Juli 1974 München)

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    [Erich Kästner] schrieb in dem Artikel Ringelnatz und Gedichte überhaupt, der Anfang 1930 für die Neue Leipziger Zeitung entstand, es sei „keine Schande, Verse zu schreiben, die den Zeitgenossen begreiflich erscheinen.“ Hinterlasse der ‚reine‘ Dichter „Konservenlyrik“ für die Ewigkeit, die man aufheben und für „spätere Doktorarbeiten“ nutzen könne, schreibe der Gebrauchslyriker „für heute, zum Sofortessen“.

    Zitat Wikiwand

    Es gibt nichts gutes, außer man tut es

    Moral

    Die Entwicklung der Menschheit" (1932)

    Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,
    behaart und mit böser Visage.
    Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt
    und die Welt asphaltiert und aufgestockt,
    bis zur dreißigsten Etage.

    Da saßen sie nun, den Flöhen entflohn,
    in zentralgeheizten Räumen.
    Da sitzen sie nun am Telefon.
    Und es herrscht noch genau derselbe Ton
    wie seinerzeit auf den Bäumen.

    Sie hören weit. Sie sehen fern.
    Sie sind mit dem Weltall in Fühlung.
    Sie putzen die Zähne. Sie atmen modern.
    Die Erde ist ein gebildeter Stern
    mit sehr viel Wasserspülung.

    Sie schießen die Briefschaften durch ein Rohr.
    Sie jagen und züchten Mikroben.
    Sie versehn die Natur mit allem Komfort.
    Sie fliegen steil in den Himmel empor
    und bleiben zwei Wochen oben.

    Was ihre Verdauung übrigläßt,
    das verarbeiten sie zu Watte.
    Sie spalten Atome. Sie heilen Inzest.
    Und sie stellen durch Stiluntersuchungen fest,
    daß Cäsar Plattfüße hatte.

    So haben sie mit dem Kopf und dem Mund
    Den Fortschritt der Menschheit geschaffen.
    Doch davon mal abgesehen und
    bei Lichte betrachtet sind sie im Grund
    noch immer die alten Affen.

    Der August (1955)

    Nun hebt das Jahr die Sense hoch
    und mäht die Sommertage wie ein Bauer.
    Wer sät, muss mähen.
    Und wer mäht, muss säen.
    Nichts bleibt, mein Herz. Und alles ist von Dauer.

    Stockrosen stehen hinterm Zaun
    in ihren alten, brüchigseidnen Trachten.
    Die Sonnenblumen, üppig, blond und braun,
    mit Schleiern vorm Gesicht, schaun aus wie Frau'n,
    die eine Reise in die Hauptstadt machten.

    Wann reisten sie? Bei Tage kaum.
    Stets leuchteten sie golden am Stakete.
    Wann reisten sie? Vielleicht im Traum?
    Nachts, als der Duft vom Lindenbaum
    an ihnen abschiedssüß vorüberwehte?

    In Büchern liest man groß und breit,
    selbst das Unendliche sei nicht unendlich.
    Man dreht und wendet Raum und Zeit.
    Man ist gescheiter als gescheit, -
    das Unverständliche bleibt unverständlich.

    Ein Erntewagen schwankt durchs Feld.
    Im Garten riecht's nach Minze und Kamille.
    Man sieht die Hitze. Und man hört die Stille.
    Wie klein ist heut die ganze Welt!
    Wie groß und grenzenlos ist die Idylle ...

    Nichts bleibt, mein Herz. Bald sagt der Tag Gutnacht.
    Sternschnuppen fallen dann, silbern und sacht,
    ins Irgendwo, wie Tränen ohne Trauer.
    Dann wünsche Deinen Wunsch, doch gib gut acht!
    Nichts bleibt, mein Herz. Und alles ist von Dauer.

    Rezitation: Uschi Rischanek

    Wir sitzen alle im gleichen Zug
    und reisen quer durch die Zeit.
    Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
    Wir fahren alle im gleichen Zug.
    Und keiner weiß, wie weit.

    Ein Nachbar schläft, ein andrer klagt,
    ein dritter redet viel.
    Stationen werden angesagt.
    Der Zug, der durch die Jahre jagt,
    kommt niemals an sein Ziel.

    Wir packen aus, wir packen ein.
    Wir finden keinen Sinn.
    Wo werden wir wohl morgen sein?
    Der Schaffner schaut zur Tür herein
    und lächelt vor sich hin.

    Auch er weiß nicht, wohin er will.
    Er schweigt und geht hinaus.
    Da heult die Zugsirene schrill!
    Der Zug fährt langsam und hält still.
    Die Toten steigen aus.

    Ein Kind steigt aus, die Mutter schreit.
    Die Toten stehen stumm
    am Bahnsteig der Vergangenheit.
    Der Zug fährt weiter, er jagt durch die Zeit,
    und keiner weiß, warum.

    Die erste Klasse ist fast leer.
    Ein feister Herr sitzt stolz
    im roten Plüsch und atmet schwer.
    Er ist allein und spürt das sehr.
    Die Mehrheit sitzt auf Holz.

    Wir reisen alle im gleichen Zug
    zur Gegenwart in spe.
    Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
    Wir sitzen alle im gleichen Zug
    und viele im falschen Coupé.

    Neue Sachlichkeit (Kunst)

    Der Januar (1955)  

    Das Jahr ist klein und liegt noch in der Wiege.
    Der Weihnachtsmann ging heim in seinen Wald.
    Doch riecht es noch nach Krapfen auf der Stiege.
    Das Jahr ist klein und liegt noch in der Wiege.
    Man steht am Fenster und wird langsam alt.


    Die Amseln frieren.
    Und die Krähen darben.
    Und auch der Mensch hat seine liebe Not.
    Die leeren Felder sehnen sich nach Garben.
    Die Welt ist schwarz und weiß und ohne Farben.
    Und wär so gerne gelb und blau und rot.


    Umringt von Kindern wie der Rattenfänger,
    tanzt auf dem Eise stolz der Januar.
    Der Bussard zieht die Kreise eng und enger.
    Es heißt, die Tage würden wieder länger.
    Man merkt es nicht. Und es ist trotzdem wahr.


    Die Wolken bringen Schnee aus fremden Ländern.
    Und niemand hält sie auf und fordert Zoll.
    Silvester hörte man’s auf allen Sendern,
    dass sich auch unterm Himmel manches ändern
    und, außer uns, viel besser werden soll.


    Das Jahr ist klein und liegt noch in der Wiege.
    Und ist doch hunderttausend Jahre alt.
    Es träumt von Frieden. Oder träumt’s vom Kriege?
    Das Jahr ist klein und liegt noch in der Wiege.
    Und stirbt in einem Jahr. Und das ist bald.

    Penumbral Lunar Eclipse Saturday, January 8, 1955