Foto: © Jörg Briese Erich Fried an Herholz‘ Küchentisch

Erich Fried 
(*6. Mai 1921 - † 22. November 1988)
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Zweifle nicht


"Zweifle nicht
an dem 
der dir sagt 
er hat Angst 
aber hab Angst 
vor dem 
der dir sagt 
er kenne keine Zweifel"

Angst und Zweifel, in: 100 Gedichte ohne Vaterland, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1979, ISBN 3-8031-2044-6

Dann

Dann
Wenn dein Glück
kein Glück mehr ist
dann kann deine Lust
noch Lust sein
und deine Sehnsucht ist noch
deine wirkliche Sehnsucht

Auch deine Liebe
kann noch Liebe sein
beinahe noch glückliche Liebe
und dein Verstehen
kann wachsen

Aber dann will auch
deine Traurigkeit
traurig sein
und deine Gedanken
werden mehr und mehr
deine Gedanken

Du bist dann wieder du
und fast zu sehr bei dir
Deine Würde ist deine Würde
Nur dein Glück
ist kein Glück mehr


Das richtige Wort

Nicht Schlafen mit dir
nein: Wachsein mit dir
ist das Wort
das die Küsse küssen kommt
und das Streicheln streichelt

und das unser Einatmen atmet
aus deinem Schoß
und aus deinen Achselhöhlen
in meinen Mund
und aus meinem Mund
und aus meinem Haar
zwischen deine Lippen

und das uns die Sprache gibt
Von dir für mich
und von mir für dich
eines dem anderen verständlicher
als alles

Wachsein mit dir
das ist die endliche Nähe
das Sichineinanderfügen
der endlosen Hoffnungen
durch das wir einander kennen

Wachsein mit dir
und dann
Einschlafen mit dir


Rezitation: Alexander Fehling (*29.März 1981 Ost-Berlin)


Anmerkung: Die Zeit der Steine. Die Zeit der Pflanzen. Dann kam die Zeit der Tiere. Dann kam die Zeit der Menschen. Nun kommt die Zeit der Steine. Wer die Steine reden hört weiß, es werden nur Steine bleiben. Wer die Menschen reden hört weiß, es werden nur Steine bleiben. (E.Fried)

LYRIK_MUSIK #literaturforum

Worte

Wenn meinen Worten die Silben ausfallen vor Müdigkeit
und auf der Schreibmaschine die dummen Fehler beginnen
wenn ich einschlafen will und nicht mehr wachen zur täglichen Trauer
um das was geschieht in der Welt und was ich nicht verhindern kann

beginnt da und dort ein Wort sich zu putzen und leise zu summen
und ein halber Gedanke kämmt sich und sucht einen anderen
der vielleicht eben noch an etwas gewürgt hat was er nicht schlucken konnte
doch jetzt sich umsieht
und den halben Gedanken an der Hand nimmt und sagt zu ihm: Komm

Und dann fliegen einigen von den müden Worten
und einige Tippfehler die über sich selber lachen
mit oder ohne die halben und ganzen Gedanken
aus dem Londoner Elend über Meer und Flachland und Berge
immer wieder hinüber zur selben Stelle

Und morgens wenn du die Stufen hinuntergehst durch den Garten
und stehenbleibst und aufmerksam wirst und hinsiehst
kannst du sie sitzen sehen oder auch flattern hören
ein wenig verfroren und vielleicht noch ein wenig verloren
und immer ganz dumm vor Glück daß sie wirklich bei dir sind


Anmerkung: Nichtwissen tut niemand weh mit Ausnahme derer denen wehgetan werden kann weil niemand es weiß. (E.Fried)

Christoph Gruber (* 1978 in Erlangen)

DICH

Dich
dich sein lassen
ob das schwer oder leicht ist?
Es kommt nicht darauf an
mit wieviel Vorbedacht und Verstand
sondern mit wieviel Liebe
und mit wieviel
offener Sehnsucht nach allem
nach allem was du bist
Nach der Wärme und nach der Kälte
nach der Güte und nach dem Starrsinn
nach deinem Willen und Unwillen
nach jeder deiner Gebärden
nach deiner Ungebärdigkeit
Unstetigkeit Stetigkeit
Dann ist dieses
dich dich sein lassen
vielleicht gar nicht so schwer.

(Erich Fried, Wagenbach-Verlag)

Wie du solltest geküsset sein

Wenn ich dich küsse
ist es nicht nur dein Mund
nicht nur dein Nabel
nicht nur dein Schoß
den ich küsse
Ich küsse auch deine Fragen
und deine Wünsche
ich küsse dein Nachdenken
deine Zweifel
und deinen Mut
deine Liebe zu mir
und deine Freiheit von mir
deinen Fuß
der hergekommen ist
und der wieder fortgeht
ich küsse dich
wie du bist
und wie du sein wirst
morgen und später
und wenn meine zeit vorbei ist

NUR NICHT

Das Leben
wäre
vielleicht einfacher
wenn ich dich
gar nicht getroffen hätte

Weniger Trauer
jedes Mal
wenn wir uns trennen müssen
weniger Angst
vor der nächsten
und übernächsten Trennung

Und auch nicht soviel
von dieser machtlosen Sehnsucht
wenn du nicht da bist
die nur das Unmögliche will
und das sofort
im nächsten Augenblick
und die dann
weil es nicht sein kann
betroffen ist
und schwer atmet

Das Leben
wäre vielleicht
einfacher
wenn ich dich
nicht getroffen hätte

Es wäre nur nicht
mein Leben

ABER SOLANGE ICH ATME

Auch was
auf der Hand liegt
muss ich
aus der Hand zu geben
bereit sein

und muss wissen
wenn ich liebe
dass es wirklich
die Liebe zu dir ist
und nicht nur
die Liebe zur Liebe zu dir
und dass ich nicht
eigentlich
etwas Uneigentliches will

Aber
solange ich atme
will ich
wenn ich den Atem
anhalte
deinen Atem
noch spüren
in mir

Fritz Stavenhagen (* 15. Mai 1945 in Klettwitz, Niederlausitz)

Anmerkung: Was keiner geglaubt haben wird - was keiner gewusst haben konnte - was keiner geahnt haben durfte - das wird dann wieder das gewesen sein - was keiner gewollt haben wollte. (E.Fried)

Verwirrt

Wenn ein Blick von dir der mich streift
mir mehr gilt als mein Gedicht
die Nähe deiner Hand mehr
als meine Tagesarbeit
deiner Stimme Klang mehr als die Sache
für die ich mich eingesetzt habe
und mich wieder einsetzen will
auch wenn sie gefährlich ist
dann stehe ich da
verwirrt
und mir schwindelt
weil ich nichts sehe
als dich und dich und dich
näher und näher
und wenn ich die Augen zumache
sehe ich dich
noch deutlicher und noch näher
und mir schwindelt noch mehr

IN DER FERNE

In der Nähe
schreibt man vielleicht nicht Gedichte
Man streckt die Hand aus
sucht
streichelt
man hört zu
und man schmiegt sich an

Aber das unbeschreiblich
Immergrößerwerden der Liebe
von dem ich schreibe
das erlebt man
bei Tag und bei Nacht
auch in der Nähe

DU / DICH

Wo keine Freiheit ist
Bist du die Freiheit
Wo keine Wuerde ist
Bist du die Wuerde
Wo keine Waerme ist
Keine Naehe von Mensch zu Mensch
Bist du die Naehe und die Waerme
Herz der herzlosen Welt

Deine Lippen und deine Zunge
Sind Fragen und Antworten
In deinen Armen und deinem Schoss
Ist etwas wie Ruhe
Jedes Fortgehenmuessen von dir
Geht zu auf das Wiederkommen
Du bist ein Anfang der Zukunft
Herz der herzlosen Welt

Du bist kein Glaubensartikel
Und keine Philosophie
Keine Vorschrift und kein Besitz
An den man sich klammert
Du bist ein lebender Mensch
Du bist eine Frau
Und kannst irren und zweifeln und gutsein
Herz der herzlosen Welt

***

Dich
dich sein lassen
ganz dich

Sehen
dass du nur du bist
wenn du alles bist
was du bist
das Zarte
und das Wilde
das was sich losreißen
und das was sich anschmiegen will

Wer nur die Hälfte liebt
der liebt dich nicht halb
sondern gar nicht
der will dich zurechtschneiden
amputieren
verstümmeln

Dich dich sein lassen
ob das schwer oder leicht ist?
Es kommt nicht darauf an mit wieviel
Vorbedacht und Verstand
sondern mit wieviel Liebe und mit wieviel
offener Sehnsucht nach allem –
nach allem
was du ist

Nach der Wärme
und nach der Kälte
nach der Güte
und nach dem Starrsinn
nach deinem Willen
und deinem Unwillen
nach jeder deiner Gebärden
nach deiner Ungebärdigkeit
Unstetigkeit
Stetigkeit

Dann
ist dieses
dich dich sein lassen
vielleicht
gar nicht so schwer.


Rezitation: Konstantin Wecker - Jessica Schwarz (Foto) / Anmerkung: Liebe mich dann, wenn ich es am wenigsten verdient habe, denn dann brauche ich es am meisten. (Autor unbekannt)

VIELLEICHT / SEITHER

Ich müßte vielleicht
an den Kuß
von dir
gar nicht denken
Aber ich roch dabei
den Duft deiner Haare
und deiner Haut
und an den muß ich denken
An den Duft deiner Haare
und deiner Haut
müßte ich vielleicht
gar nicht denken
Aber ich spürte dabei
dein Einatmen und
dein Ausatmen
und an das muß ich denken
An dein Einatmen
und dein Ausatmen
müßte ich vielleicht
gar nicht denken
Aber ich sah dabei
deine Augen
ganz nahe
An die muß ich denken
Und wenn ich
den Duft deiner Haare
und deiner Haut
nicht gerochen hätte
Und wenn ich
dein Einatmen und
dein Ausatmen
nicht gespürt hätte
Und wenn ich
deine Augen
nicht ganz nahe
gesehen hätte
Dann müßte ich
vielleicht doch denken
an diesen Kuß
von dir

***

Seither bedeutet Küssen
eigentlich nur noch
dich küssen
also nur noch
geküßt haben
nicht mehr küssen
nicht wirklich mehr küssen dürfen
also vielleicht auch
nicht wirklich mehr
küssen können
Aber eigentlich hat Küssen
nicht nur Küssen bedeutet
sondern auch bei dir sein

Und eigentlich
bedeutet seither
auch sein
nichts als bei dir sein
und atmen
nichts als dich einatmen
oder in dich hineinatmen
also nichts als
bei dir gewesen sein
und bei dir geatmet haben
also eigentlich
nicht mehr atmen
und nicht mehr sein

Rezitation: Alexander Fehling (*29.März 1981 Ost-Berlin) & Esther Schweins (*18.April 1970 Oberhausen)

6. 42 Schulkinder (Erich Fried)

Wie weit ist es
von Guernica nach Man Quang
von Spanien nach Vietnam
von Washington nach Berchtesgaden
von München nach Prag
von Berlin und von Moskau nach Warschau
von Hitler bis zu wem
und zu welchem Land?

 
Wie weit war es
von Guernica nach München?
ein Jahr und fünf Monate
Das ist nicht sehr weit
Wie weit war es
von Guernica nach Polen?
zwei Jahre vier Monate
Das ist nicht sehr weit
Von Ende April 1937
bis Anfang September 1939

 
Von Saigon nach Hanoi ist es etwa so weit
wie von Berlin nach Kiew
von Marseille oder Köln nach Belgrad
oder von Guernica nach Münster oder nach
Ich habe Guernica
gesucht auf der Karte von Spanien
weil ich mir Man Quang in Vietnam
anders nicht vorstellen kann
Was haben die Schulkinder
von Man Quang gelernt von den Bomben?
Was haben wir gelernt
von den Schulkindern von Man Quang?

 
Was haben wir alle gelernt
von Guernica und von Polen
von Coventry Stalingrad Dresden
Nagasaki Suez und Sakiet?

 
Daß es gar nicht so weit ist
oder daß es noch nicht soweit ist
oder daß es nicht so weit
hätte kommen dürfen?
Die Eltern nahmen die Kinder
in ihren Särgen
um sie hinzutragen
zu den Soldaten
Sie wurden von den Soldaten zurückgeschlagen
und trugen die Särge wieder ins Dorf Man Quang

14. Recht und billig (Erich Fried)

Für jeden von ihnen getöteten Zivilisten
der nicht gegen sie gekämpft hat
zahlen die Amerikaner
einhundert zwanzig Mark Entschädigung und für jedes
getötete Kind zahlen sie sechzig Mark
außerdem für jedes zerstörte Haus
neunzig Mark bar
und zehn Sack Zement
und zehn Streifen Wellblech.
 
Ja deshalb sollten wir
schon heute zu sammeln beginnen
für den Fall
daß einmal in Washington ein Präsident
erschossen wird
oder gehängt
damit man dann seiner Familie
einhundert zwanzig Mark für ihn gibt
und so die Sache aus der Welt schafft.
 
Und falls dabei Mitglieder seiner Familie
ums Leben kommen
wäre es praktisch
auch dafür ein bißschen Kleingeld bereitzuhalten
Und falls das Weiße Haus
dabei in die luft fliegt
neunzig Mark extra
und zehn Sack Zement
und zehn Streifen Wellblech.

"Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe


Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe"


Rezitation: Katja Riemann (*1.November 1963 Kirchweyhe

Anmerkung: Ich sah' Dich an, um mich satt zu sehen an Dir, solange Du da warst. Ich habe mich hungrig gesehen, ich habe mich durstig gesehen an Dir. (E.Fried)

Eine andere Aufnahme

Erich Fried - Warngedichte (1964)


Planetlyrik - Erich Fried: Warngedichte

WordPress - Warngedichte (1964)


Gelächter (siehe WordPress - Warngedichte (1964))

Euphorie
Ein Brunnenlöwe
Usurpation
Letztes lösbares Problem
Ablauf
Im Vogelschutzpark
Das Bild
Verewigung
Untergang
Erfolg
Traumgespräch
Völkerkunde
Auf und ab 

Wiederkehrende Träume (siehe WordPress - Warngedichte (1964))

Ort
Krüppelwunder
Die Blinden
Die Furt
Lynkeus
Rückzug
Tiefer Traum
Ein Prophet
Wadi
Die Summ-Summe
Die Vogelbrücke
Die Wiederkehr
Der Vogel
Die Tiere
Schneispruch
Winterfutter
Auf halbem Weg
Taten
Muspilli
Mischgericht
Einkäufe
Tierkreis
Der Strohmann
Die Hinrichtung
Der gute Gärtner
An Kindes Statt
Fluchtwelt
Lot trinkt
Lot im Gebirge 

Rede in der Hand (siehe WordPress - Warngedichte (1964))

Ohne Deutung
Rede in der Hand
Der Mut spricht
Die Ablenkung
Die Erhörung
Wettlauf
Zu den Steinen
Marathon
Nachliebe
Näher und weiter
Trennung
Wechselfall
Werbung
Am Baum
Älterwerden

Kampf ohne Engel (siehe WordPress - Warngedichte (1964))

Kampf ohne Engel
Bäumung und Verzweigung
Das verschleierte Bild
Gegengewicht
Mauis letzte Tat
Blutsverwandtschaft
An die Schrecken der Zeit
Vorabend
Abend
Nacht
Kette
Im Ohr
Auszug und Heimkehr
Die Mahlzeit
Die Stätte
Auf freiem Markt (für H.M.E., 1+2)
Rückkehr
Die Händler
Die Gezeichneten
Der Mitmensch
Die Abnehmer
Gorgo (1+2)
Neutralität
Die Halbkugeln
Zustand
Stehengeblieben
Überstandene Kriegsgefähr
Asche
Haus des Brotes (Beth-lehem: Haus des Brotes)
Stämme der Welt
Bedenken
Weil du traurig warst
Rückblick
Totenmaske (in memoriam Fritz Gross)
Meer

Sprüche und Widersprüche (siehe WordPress - Warngedichte (1964))

Angst vor der Angst
Hoffnung auf Wahrheit
Wahre Lüge
Besichtigung
Heimweg von Delphi
Unbelehrbar
Drei Versicherungen im Feuer (1-3)
Totschlagen
Genius der Zeit („Mit rechten Leuten wird man was. Komm, fasse meinen Zipfel! Der Blocksberg, wie der deutsche Parnaß, Hat gar einen breiten Gipfel.“)
Geteiltes Leid
Die Überlebenden
Einzahl
Der Lügner
Einblick
Definition
Ausweg
Antwort
Unrecht
Allerwegen
Gedicht von den Gedichten

EINDENKUNG


Ich denke nach
was ich dir zu geben habe
und warum es gut für dich ist
oder schlecht für dich
dass ich dich liebe
Ich denke nach
was ich dir alles sein kann
und ob ich ein Recht habe
mich zu sehnen nach dir

Ich denke nach
ob es Sinn hat
so nachzudenken
und wie ich wissen soll
was ich dir alles sein kann
Ich denke nach
warum ich ein Recht haben will
dir etwas zu geben zu haben
und mich nach dir zu sehnen

Ich sehne mich nach dir
weil ich mich nach dir sehne
Ich will dir etwas sein
weil du mir mehr bist als etwas
und weil ich nicht ohne dich sein will
Ich liebe dich
nicht weil es gut oder schlecht ist
und nicht weil es recht oder unrecht ist
sondern weil ich dich liebe