Christian Morgenstern 18 years old


Christian Morgenstern

(*6.Mai 1871 München - †31.März 1914 Untermais, Tirol, Österreich-Ungarn)

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"Ich
liebe dich, du Seele, die da irrt
im Thal des
Lebens nach dem rechten Glücke."

Ich liebe Dich.
In: Und aber ründet sich ein Kranz.
Berlin: S. Fischer, 1902
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Wenn es Winter wird......


Der See hat eine Haut bekommen,
so dass man fast drauf gehen kann,
und kommt ein grosser Fisch geschwommen,
so stösst er mit der Nase an.

Und nimmst du einen Kieselstein
und wirfst du ihn rauf, so macht es klirr
und titscher - titscher - titscher - dirr ...
Heißa, du lustiger Kieselstein!
Er zwitschert wie ein Vögelein
und tut als wie ein Schwäblein fliegen -
doch endlich bleibt mein Kieselstein
ganz weit, ganz weit auf dem See draussen liegen.

Da kommen die Fische haufenweis
und schaun durch das klare Fenster von Eis
und denken, der Stein wär etwas zum Essen:
doch so sehr sie die Nasen ans Eis auch pressen,
das Eis ist zu dick, das Eis ist zu alt,
sie machen sich nur die Nasen kalt.

Aber bald, aber bald
werden wie selbst auf eigenen Sohlen
hinaus gehen können und den Stein wiederholen.

Es ist Nacht

Es ist Nacht,
und mein Herz kommt zu dir,
hält's nicht aus,
hält's nicht aus mehr bei mir.
 
Legt sich dir auf die Brust,
wie ein Stein,
sinkt hinein,
zu dem deinen hinein.
 
Dort erst,
dort erst kommt es zur Ruh,
liegt am Grund
seines ewigen Du.

Was denkst du jetzt?

Ach, hinter diese Stirne
zu dringen, - wär' es, wär' es
mir gegeben!
Ein Bettler steh ich da
vor deinem Leben,
das unaufhörlich
sich in dir verschliesst.
Besitz' ich dich,
wenn ewig Unbesessnes
in deiner Brust
an mir vorüberfliesst?
O allzu streng und kärglich Zugemessnes,
was sich von Aug' und Munde nur
ergiesst!
O gieb mir Teil
an jenem stummen Weben!
Was denkst du jetzt?
Ach, hinter diese Stirne
zu dringen, - wär' es, war' es
mir gegeben!"

Rezitation: Verena Reichardt (*1953 Düsseldorf)

Anmerkung: Wann wird dies sein? Wann wird das sein? – Wann wir es uns verdient haben werden. (Chr. Morgenstern)

Das geht an dich

Das geht an dich und mich und jeden:
Mehr sein, weniger reden,
weniger sagen, fragen, klagen,
mehr die Wärme nach innen schlagen;

unsere Zungen in Züchten halten,
nicht immer die ewig alten
Sätze und Plätze wiederkäuen,
Phrasen und Fratzen in allem scheuen;
langsam prüfen, sich gern bescheiden,

alles schnelle Vorurteil meiden;
uns genügen im Unentbehrlichen,
uns vereinfachen, uns verehrlichen,
eins vom Kinder- zum Greisenleben:
weise, weise zu werden streben.

Rezitation: Jürgen Goslar

Anmerkung: Eine Wahrheit kann erst wirken, wenn der Empfänger für sie reif ist. Nicht an der Wahrheit liegt es daher, wenn die Menschen noch so voller Unweisheit sind.

Liebe, Liebste, in der Ferne

Liebe, Liebste, in der Ferne,
wie so sehr entbehr’ ich Dich!
Leuchteten mir milde Sterne,
ach, wie bald ihr Glanz erblich!

Wenn ich deine weichen Wangen
leis in meine Hände nahm,
und voll zärtlichem Verlangen
Mund zu Mund zum Kusse kam;

wenn ich deine Schläfen rührte
durch der Haare duftig Netz,
o, wie war, was uns verführte,
beiden uns so süß Gesetz!

Und nun gehst du fern und einsam.
Ach, wie achtlos spielt das Glück!
Bringt, was einmal uns gemeinsam,
noch einmal sein Strom zurück?

Liebe, Liebste, in der Ferne,
wie so sehr entbehr’ ich dich!
Leuchteten uns milde Sterne,
ach, wie schnell ihr Glanz erblich!


Die unmögliche Tatsache

Palmström, etwas schon an Jahren,
wird an einer Straßenbeuge
und von einem Kraftfahrzeuge
überfahren.

„Wie war“ (spricht er, sich erhebend
und entschlossen weiterlebend)
„möglich, wie dies Unglück, ja –:
daß es überhaupt geschah?

Ist die Staatskunst anzuklagen
in bezug auf Kraftfahrwagen?
Gab die Polizeivorschrift
hier dem Fahrer freie Trift?

Oder war vielmehr verboten,
hier Lebendige zu Toten
umzuwandeln, – kurz und schlicht:
D u r f t e hier der Kutscher nicht–?“

Eingehüllt in feuchte Tücher,
prüft er die Gesetzesbücher
und ist alsobald im klaren:
Wagen durften dort nicht fahren!

Und er kommt zu dem Ergebnis:
„Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil“, so schließt er messerscharf,
„nicht sein kann, was nicht sein darf.“


Die Stimme


Eine junge Mutter singt
eintönig ihrem Kind,
ihr Sinn in fernen Zeiten rinnt,
voraus, zurücke dringt, –
und mit dem Liede spielt der Wind ...

und trägt's zu mir,
und trägt's zu dir,
dass es uns selber rührt und regt,
als säng' sie's dir,
als säng' sie's mir,
und laut in uns das Herze schlägt, –
als säng', was wir geworden sind,
die Mutter dort eintönig
zum Wiegen in den Wind.

 
Christian Morgenstern as a child

Palmström legt des Nachts
sein Chronometer –
um sein lästig Ticken nicht zu hören,
in ein Glas mit Opium oder Äther.
Morgens ist die Uhr dann ganz `herunter´.
Ihren Geist von neuem zu beschwören,
wäscht er sie mit schwarzem Mokka munter.

Selbstporträt 1906

Das Knie

Ein Knie geht einsam durch die Welt.
Es ist ein Knie, sonst nichts!
Es ist kein Baum! Es ist kein Zelt!
Es ist ein Knie, sonst nichts.

Im Kriege ward einmal ein Mann
erschossen um und um.
Das Knie allein blieb unverletzt —
als wär’s ein paar Heiligtum.

Seitdem geht’s einsam durch die Welt.
Es ist ein Knie, sonst nichts.
Es ist kein Baum, es ist kein Zelt.
Es ist ein Knie, sonst nichts